Die Ästhetik der Walzendosen

Jede Phonographenwalze mit zugehöriger Dose ist wie eine Zeitmaschine, die einen punktuellen Einblick in ihre Entstehungszeit gewährt: Die Tonaufnahme wirft ein Schlaglicht auf die Moden und Vorlieben der damaligen Musik- und Sprachdarbietungen und lässt dabei auch das Potential und die Beschränkungen des Mediums erkennen. Ihre Verpackung führt exemplarisch die damals gängige Ästhetik vor Augen. Zugleich gibt die Wahl der Gestaltungsmittel und textlichen Informationen manche Hinweise auf die Selbsteinschätzung und Zukunftsvisionen der Herstellerfirmen.

Vor dem Hintergrund des heutigen Stands der Audiotechnik und der aktuellen Alltags- und Gebrauchsästhetik geht leicht der Blick dafür verloren, dass eine Phonographenwalze mit ihrer zeitgenössischen Verpackung als technologisch-ästhetisches Gesamtpaket aus einer längst vergangenen Ära nicht schon immer ein altertümliches Artefakt war. Das Gegenteil ist der Fall: Zu ihrer Entstehungszeit war sie ein hochmodernes Ergebnis des Fortschritts der angewandten Wissenschaften und des aktuellen Gestaltungswillens. Denn der Phonograph und seine Software, die Walze, waren eine vollkommen neue, sich gerade erst zur Marktreife entwickelnde Technologie. Davor hatte es keine Tonaufnahmen gegeben. Daher gab es für die Aufgabe, die neuen Tonträger und ihre Verpackungen zu gestalten, keine direkten Vorbilder und erst recht keine Tradition, an die man hätte anknüpfen können.
So mussten erst einmal Grundtypen von Walzenverpackungen entwickelt werden, bei denen vor allem die physischen Eigenschaften der Zylinder und produktionstechnische und ökonomische Vorgaben zu berücksichtigen waren.

Schutz und Aufbewahrung
Die klarsten Vorgaben zum Aussehen der Behältnisse ergaben sich aus der Form, der Größe und den Materialeigenschaften der Walzen. Eine daran angepasste Verpackung war zwingend. Tatsächlich sind von Anfang an die allermeisten Dosen zylindrisch. Nur in sehr seltenen Fällen haben sie einen quadratischen oder gar polygonalen Querschnitt, der eine zusätzliche innere Halterung erforderlich machte.
Sofern es sich um Wachswalzen handelte, musste das Verpackungsmaterial so robust sein, dass es Schutz gegen Bruch und Kratzer bei der Aufbewahrung, beim Herausnehmen und Zurückstecken und beim Transport gewährleistete. Der Regelfall waren Dosen aus mehr oder weniger starkem Kartonmaterial. Andere Werkstoffe, wie Weißblech oder Holz, wurden sehr selten verwendet.
Da weder Material noch Platz verschwendet werden sollten, sind die Behälter meist gerade so groß, dass die Walzen knapp darin Platz finden. Schutz vor Kratzern auf der Oberfläche wurde bei frühen Wachszylindern durch Einwickeln in Baumwollwatte, etwas später durch eine Filz- oder Stoffpolsterung auf der Innenseite der Dosen gewährleistet. Eine weitere, vor allem bei größeren Formaten gängige Methode, Kratzer zu verhindern, bestand darin, ins Innere der Kartons eine Pappröhre zum Aufstecken der Walze zu montieren und den äußeren Umfang der Dose so groß zu wählen, dass ein Spalt zwischen Walzenoberfläche und Innenseite der Außenwandung frei bleibt.
Die bruch- und kratzsicheren Celluloidwalzen erforderten keinen derartigen Schutz. Sie wurden in ungepolsterten, relativ dünnwandigen Pappdosen mit direktem Kontakt der bespielten Oberfläche zur Innenseite der Dosen untergebracht.

Gestaltung
Die Möglichkeiten und Grenzen der farblichen, grafischen und typografischen Gestaltung wurden durch Form und Größe der Walzendosen definiert. Nur eckige Dosenformate boten die Möglichkeit, Bild- und Textinformationen auf ebenen Flächen unterzubringen, die mit einem Blick vollständig und ohne Verzerrung, wenn auch nur auf jeweils einer Seite, erfasst werden können. Die üblichen zylindrischen Formate dagegen erfordern zur vollständigen Wahrnehmung der Oberfläche eine Drehung der Dose, wobei jede Ansicht nur entlang der Mittelachse ein verzerrungsfreies Bild liefert, das immer nur eine unvollständige Teilansicht sein kann. Anders als bei der seit Mitte des 19. Jahrhunderts geläufigen Litfaßsäule, deren Oberfläche beim Näherkommen zunehmend als flache Ebene wahrgenommen wird, lässt eine Walzendose dies als kleiner Körper mit viel stärkerer Oberflächenkrümmung nicht zu.
Den Abschluss von Boden und Deckel bilden runde Flächen mit gestalterischen Anforderungen, die denen der meist ähnlich großen Schallplattenetiketten entsprechen. Allerdings spielen die Bodenflächen für die Gestaltung nur eine sehr untergeordnete Rolle, sind dennoch zuweilen beschriftet, gestempelt oder mit Etiketten beklebt.

Frühe Verpackungen
Die ältesten Walzenbehälter im Standardformat waren roh belassene, unscheinbar graubraune Kartonbüchsen, die direkt beschrieben oder mit Marken und Aufklebern versehen werden konnten. Ihr Zweck wurde noch nicht in einer gefälligen oder werbenden Präsentation der Walzen, sondern nur in ihrer sicheren Aufbewahrung gesehen. Ein solches nicht-gestaltetes Äußeres, das ästhetisch kaum ansprechender war als die uns allen vertrauten inneren Pappröhren von Toilettenpapierrollen, ließ eine sich später als wichtig erweisende Werbefläche ungenutzt.

Anonyme frühe Wachswalze französischer Produktion, um 1896.


Der Verzicht auf jegliche dekorative oder informative Gestaltung konnte nicht von langer Dauer sein, zumal zum Ende des 19. Jahrhunderts hin immer mehr neue Phonofirmen auf den Markt drängten, die zueinander in Konkurrenz standen. In dieser Zeit begannen die Hersteller, einfache Aufkleber oder vorgedruckte Etiketten für den Eintrag von Titel und ggf. auch Interpret anzubringen. Gleichzeitig wurden die Kartons ansprechender gestaltet.

Farbige und strukturierte Oberflächen
Während bei den großen amerikanischen Herstellern Columbia und Edison auf die Periode der rohen Pappdosen direkt dekorative und zugleich informative Etiketten über den gesamten Umfang der Packung folgten, setzte man in Europa in der Zeit der Weichwachswalzen und zum Teil auch noch danach vielfach auf das Kaschieren der Oberfläche mit einfarbigen, oft dunkelblauen oder bordeauxroten Papieren.

Anonyme französische Weichwachswalze (verm. Pathé) in einheitlich dunkelblauer Dose, um 1899.

Oft aber war die Farbgestaltung raffinierter. Vor allem französische Dosen der Weichwachs- und frühen Gusswalzenzeit können sehr farbintensive Oberflächen haben. Diese sind aufkaschierte Öl- oder Lackpapiere, zum Teil mit Struktur- und Prägeeffekten, beispielsweise als Reptil- oder Chagrinlederimitat, wie sie damals auch als Einbandpapiere und Vorsatzblätter für Bücher oder als Bezugsmaterial für Schachteln verbreitet waren.

Oberfläche der Dose einer anonymen französischen Stentor-Walze mit grünem Lederimitat, um 1900.
Detail der Dose einer Pathé-Inter-Gusswalze aus Pappe mit geprägtem Reptillederimitat, 1903.

Durch abgesetzte Farben an den Kanten oder am oberen, im geschlossenen Zustand verdeckten Rand des Kartons konnten wirkungsvolle Kontraste hervorgerufen werden, die auf ein wertvolles Objekt aufmerksam machten. Informationen zum Hersteller waren meist auf ein schlicht gestaltetes Deckeletikett oder einen Aufkleber beschränkt. Dort bestand auch die Möglichkeit, Titel und Interpret handschriftlich einzutragen.

Die raffinierte Farbkombination lässt einen besonderen Inhalt erwarten: Dose für eine Weichwachswalze der Marke Mazo, um 1900.

Nicht nur schöner Schein, sondern wirkliche Luxusobjekte waren Kleinstserien mit Aufnahmen von hochkarätigen Opernsängern, wie sie Gianni Bettini oder die Anglo Italian Commerce Company herausgaben. Mit zum Teil direkt eingespielten Aufnahmen wurde ganz auf künstlerische Qualität, Klangqualität und Exklusivität gesetzt. Entsprechend vornehm gestaltete Verpackungen mussten dies zum Ausdruck bringen, beispielsweise das hier abgebildete, innen mit rotem Samt ausgepolsterte, in Goldlettern beschriftete Kästchen der AICC mit verschließbarem Klappdeckel. Die Concert-Walze wird darin wie eine Reliquie präsentiert, was gerade im katholischen Italien sofort ins Auge springen musste.

Ein musikalisches Heiligtum, das Angehörigen und Mitwirkenden der Scala in Milano vorbehalten war: Eine Aufnahme von Verdis Miserere, um 1900.

Abbildung mit freundlicher Genehmigung von Julien Anton. Nähere Angaben, auch zu dieser Walze, unter https://www.phonorama.fr/cylindres-italiens.html.

Solche Objekte gehörten schon zu ihrer Entstehungszeit zu den Rarissima der phonographischen Erzeugnisse. Sie repräsentieren das exakte Gegenteil einer Tendenz, auf die sich die großen Hersteller schon in den späten 1890er Jahren einzustellen begannen und die sich spätestens mit der Einführung der Gusswalzen um 1902/03 durchsetzte: die Ausrichtung auf Massenproduktion und Verbilligung der einzelnen Walzen.

Auf die Massenproduktion war auch die eher manufakturmäßig als industriell arbeitende Werkstatt Henri Liorets nicht vorbereitet. Lioret hatte mit der Verwendung von Celluloid und der galvanoplastischen Herstellung von Pressformen zur Vervielfältigung von Walzenaufnahmen schon 1893 zwei wichtige technische Neuerungen eingeführt. Aber er hatte dabei nicht auf Massenproduktion gesetzt, sondern auf teure Kleinauflagen von aufwendig herzustellenden Walzen mit innerer Armierung aus Messing. Dabei hatten diese Erzeugnisse schon ein einheitlich und professionell gestaltetes Klebeetikett auf der gelochten Deckplatte der Walzen, wie sie es fast nur bei Lioret-Walzen gab. Ein ringförmiges Schriftband am Rand des Etiketts weist dort auf die Herstellerfirma hin und lässt im Innern eine je nach Gattung und Art der Interpretation unterschiedlich eingefärbte Fläche zum Eindruck von Titel und Texten oder zu handschriftlichen Einträgen.

Lioret-Walzen mit unbegleiteten Gesangsdarbietungen, links mit eingedrucktem Liedtext, rechts mit handschriftlichem Eintrag des Titels, beide um 1897.

Etiketten mit Bildmotiven

Bei den großen Firmen wurde die Ausrichtung auf Massenherstellung eingeleitet von der Einführung sorgfältig gestalteter Einheitsetiketten auf den Walzendosen. Die Columbia Phonograph Company, in den 1890er Jahren ein Edisons National Phonograph Company mindestens ebenbürtiger amerikanische Hersteller von Phonographenwalzen, führte 1897 ein Etikett ein, das den gesamten Umfang der Dosen bedeckt. Bereits nach etwa einem Jahr wurde dieser erste Entwurf durch eine neue, schwungvollere und dekorativere Komposition der im Wesentlichen gleichbleibenden Bildmotive, Farben und textlichen Informationen ersetzt. Die beiden Grundentwürfe wurden zwischen 1897 und 1902 immer wieder geringfügig abgeändert, sodass eine Vielzahl von Varianten entstand. In allen Versionen bis 1902 verbinden sich farbige Schriftzüge, Ornamente, schriftliche Hinweise und die allegorische Figur der Columbia (von der an späterer Stelle die Rede sein wird) zu einem dekorativen Gesamteindruck.

Der erste Etikettentwurf der Columbia Phonograph Company, 1897/98.

Der zweite Etikettentwurf der Columbia Phonograph Company, um 1900.

Edisons National Phonograph Co. folgte 1898/99 mit einem eigenen Etikett in warmen rot-orange-Tönen, das zunächst nur den dekorativen Schriftzug Edison Records echo all over the world mit schriftlichen Informationen und Ornamenten verband.

Dose einer Edison-Weichwachswalze, noch ohne Porträt Edisons, um 1900.

Nach Einführung der Concert-Walzen kam ein en-face-Porträt Edisons hinzu, das mit nur wenigen Ausnahmen bis zum Ende der Edisonschen Walzenproduktion beibehalten wurde.

Eine der vielen Spielarten der Edison Gold Moulded-Walzen, immer mit dem Porträt Edisons, um 1906.

Schon bei der ältesten Variante, die noch ohne das Edison-Porträt auskommt, ist die Gestaltung ganz auf die Persönlichkeit des Erfinders ausgerichtet. Der Slogan „Edison Records Echo All Over The World“ nimmt hier rund die Hälfte der Gesamtfläche ein. Zusätzlich gibt es als unteren und als oberen Abschluss des Etiketts eine orange, später goldene Bordüre, in die Edisons Namenszug in seiner stilisierten Handschrift jeweils zehnmal eingedruckt ist. Auf den verschiedenen Spielarten der späteren Dosen für Edison-Gusswalzen ist sein Name dann insgesamt zwischen 25- und 30-mal zu finden. Damit wurde Edison als Person zur Marke gemacht. Mit seinem Porträt und seiner so häufig zu lesenden Unterschrift garantierte der schon in seinen jungen Jahren legendäre Erfinder höchstpersönlich für Qualität und Innovation. Der Name seiner Phonographenfirma, „National Phonograph Company“, verbindet dieses Selbstbewusstsein mit dem Anspruch, der wesentliche amerikanische Phonographenhersteller zu sein.
Die Columbia Phonograph Company vertrat den gleichen Anspruch, jedoch eher mit Mitteln der Ikonographie und der Farbgestaltung. Schon auf ihren frühesten Etiketten nutzte die Firma das Bildmotiv der amerikanischen Nationalallegorie Columbia, eine Frauenfigur mit phrygischer Mütze im Sternenbannerkleid. Seit einer Überarbeitung des ersten Etikettentwurfs um 1898 blieb die Ausstattung der Columbia-Figur rund zehn Jahre lang gleich: Als Attribute sind ihr eine US-Flagge, ein Weißkopfseeadler und, auf einer kleinen Säule stehend, ein Phonograph der Columbia-Baureihe (auf den frühen Etiketten ist Model A abgebildet) beigegeben, gerade so, als gehöre das Gerät zu den nationalen Symbolen der USA. Das gesamte Etikett ist in der Weichwachs-Ära ausschließlich in den Farben der US-Nationalflagge gehalten.

Columbia, die allegorische Verkörperung Amerikas, im Dienste der Phonographenreklame. Detail der Verpackung einer Weichwachswalze, um 1900.

Der Versuch, Columbia als nationale Phonofirma zu etablieren und vom Ansehen der damals noch jungen Nation zu profitieren, ist hier mit Händen zu greifen.

Nach einem ähnlichen Muster ging der französische Hersteller Pathé vor, natürlich mit einem französischen Nationalmotiv. Manche Dosen der auf dem englischen Markt vertriebenen Pathé-Gusswalzen haben eine umlaufende Etikettschleife mit dekorativen Ornamenten, schriftlichen Informationen und einem runden Bildfeld.

Der gallische Hahn im Dienste des Phonographenreklame. Ausschnitt einer britischen Pathé-Walzendose, 1903.

Auf diesem ist eine emblematisch-allegorische Motivkombination zu sehen, die als Aufkleber auch viele der Pathéschen Phonographengehäuse nach 1900 zierte: rechts in Seitenansicht ein großer Hahn mit offenem Schnabel, der sich nach links wendet, wo vor ihm ein kleiner Phonograph mit hoch aufgerecktem Trichter steht. So wie Columbia im Sternenbannerkleid die USA verkörpert, so repräsentiert der Hahn Frankreich. Und ähnlich wie die Figur der Columbia durch ihren Verweisgestus das Graphophone nobilitiert, wird die Sprechmaschine Pathéscher Bauart (pikanterweise eine Pathésche Kopie des erfolgreichen Columbia-Graphophone-Modells Eagle) durch den gallischen Hahn zum nationalen französischen Phonographen aufgewertet. Überdies spricht der Hahn in Form des Schriftbanners zum eigenen Lob und zum Lob des Phonographen den Werbeslogan „Je chante haut et clair“.

Nationale Symbolik ist auch auf den Dosen mancher deutscher Hersteller zu finden, in besonderem Maß auf den der ganz in den Farben der Reichsflagge (schwarz, weiß, rot) gehaltenen Verpackungen der Gloria-Gusswalzen.

Gloria-Goldgusswalze mit deutscher Nationalsymbolik, um 1906.

Die wichtigsten Bildmotive sind auf zwei getrennte Felder aufgeteilt. Als allegorische Verkörperung des Markennamens Gloria, des Ruhmes und der Ehre, sieht man auf einer Seite eine geflügelte Frauengestalt mit einer Fahnenstange, die, der gängigen Ikonographie entsprechend, eigentlich ein Schwert sein müsste, einem Lorbeerzweig und einem Stern über dem Kopf, eingepasst in eine dekorative Kartusche. Auf der gegenüberliegenden Seite der Dose sind zwei Bildmotive übereinander angeordnet: oben ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln, der in seinen Klauen einen überdimensionierten Phonographen der deutschen Excelsior-Bauart trägt, darunter der mit Namen bezeichnete Schnelldampfer Deutschland, der seinerzeit mehrere Geschwindigkeitsrekorde erzielt hatte. Ein wenig links des Adlers ist als weiteres deutsches Motiv die Reichsflagge zu sehen, rechts des Adlers die kaiserliche Reichskriegsflagge.
Die Betonung des Deutschen hat hier exzessive, fast aggressive Züge und macht den überhitzten Nationalismus der damaligen Zeit sinnfällig. In den einzelnen, auf die Gloria-Walzen bezogenen Motiven wird es vor allem mit Leistungsfähigkeit, Qualität, Ansehen, Macht und Ehre gleichgesetzt. Ebenso heben die schriftlichen Informationen des Etiketts vielfach die deutsche Herkunft des Produkts hervor.

Auch andere Phonographenmarken machten bei der Gestaltung der Walzendosen von allegorischen Bildmotiven oder solchen der antiken Götterwelt Gebrauch. Bei Electra-Goldgusswalzen ist es Hermes / Merkur, der Boten- und Handelsgott. Ausgestattet mit Flügelschuhen, Flügelhelm und seinem Hauptattribut, dem von sich paarenden Schlangen umwundenen Caduceus, schreitet er über eine Weltkugel im Miniaturformat. Ein Schriftbanner mit dem Slogan „Mein Feld ist die Welt“ verdeutlicht den Anspruch der Firma auf Weltgeltung ihrer Produkte. Die rechts daneben abgebildete blitzeschleudernde Phonographenwalze im Strahlenkranz lässt mehrere Motive gleichzeitig anklingen, die für Bedeutsamkeit und / oder Modernität stehen: die Sonne, die seinerzeit hochaktuelle Radioaktivität und die namensgebende Elektrizität. Nichts davon wird klar ausgesprochen, es verbleibt in der Sphäre der Anspielungen.

Dose für Electra-Goldgusswalzen, um 1905.

Eine neue, genau auf die Eigenschaften ihrer Walzen abgestimmte phonographenspezifische Bildidee präsentieren die Walzendosen der Marke Lambert. Das Motiv des auf einer Walze balancierenden Zirkuselefanten ist eine leicht verständliche Allegorie der Unzerbrechlichkeit. Für den ersten und lange Zeit einzigen amerikanischen Hersteller von Celluloidwalzen lag es auf der Hand, genau diesen Vorteil seiner auch in Europa vertriebenen Produkte besonders zu betonen, solange alle Konkurrenten noch viel empfindlichere Materialien nutzten. Die schriftlichen Hinweise auf den Walzendosen betonen die Unzerbrechlichkeit in mehreren Varianten, unter anderem mit dem Versprechen: „HÄLT EWIG!“.

Die Unzerbrechlichkeit als Leitmotiv der schriftlichen und bildlichen Information: Eine deutsche Lambert-Walze, um 1903.

Art Nouveau / Jugendstil

Auf besonders dekorative Art sind mythologisierend-allegorische Figuren auf den Verpackungen der britischen Clarion-Walzen in Szene gesetzt. Links und rechts einer tiefliegenden, auf- oder untergehenden strahlenden Sonne sieht man zwei junge Frauen in antiken Gewändern. Die links Stehende schlägt eine Harfe, ihr zu Füßen sind weitere Musikinstrumente und ein Notenbuch drapiert. Typologisch kommt sie der Muse Terpsichore am nächsten, wobei deren eigentliches Attribut, die Leier, am Boden liegt. Die rechte, auf dem Boden sitzende Frauenfigur lauscht, ganz der Harfenspielerin zugewandt, aufmerksam der Musik. Die grazilen Körperhaltungen der beiden Figuren und der Schwung ihrer Gewandfalten fügen sich in einen dynamisch-dekorativen Gesamtablauf aus üppigen Pflanzenmotiven und stilisierten Schriftzügen in einem Farbkontrast zwischen dunkelblau, goldgelb und rotbraun ein.

Dose eines Clarion-Zylinders, um 1907.

Der figürlich-florale Jugendstil / Art Nouveau der Jahre nach 1900 ist an diesem Beispiel in großer Stilreinheit ausgeprägt, obwohl die Figuren als Versatzstücke aus der griechischen Antike genaugenommen eine historistische Idee sind. Wie mit allen anderen Anleihen bei der antiken Mythologie und der Allegorik anderer vergangener Epochen wird mit ihrer Hilfe ein weit zurückreichender Traditionsbezug reklamiert, den die eben erst entstandene Phonoindustrie überhaupt nicht hatte und haben konnte. Die Allegorien- und Mythologieseligkeit des Historismus ist hier im Jugendstil angekommen.

Viele andere Entwürfe von Walzenverpackungen im zeittypischen Jugendstil / Art Nouveau kommen ohne das Beschwören mythologisch-allegorischer Welten, oft auch ohne figürliche Motive aus. Schwungvoll gebogene Pflanzenranken, dynamische Linien, stilisierte Schriftzüge und ungewöhnliche Farbkombinationen genügen in vielen Fällen, um einen dekorativen und zugleich auffälligen Effekt hervorzurufen. Die einzelnen Entwürfe sind dabei sehr verschiedenartig.

Vier Standardformat-Dosen im zeittypischen Jugendstil / Art Nouveau: Pathé, Sterling und London Popular, jeweils für den britischen Markt, und eine deutsche Echo-Gusswalze, um 1903 bis 1908.

In ihrer Konsequenz besonders bemerkenswert ist die Art Nouveau-Gestaltung der französischen Le Cahit-Walzendosen. Sie wurden in ähnlicher Weise für die Formate Standard, Inter und Stentor entworfen. Über den Umfang von Dose und Deckel hinweg sieht man Stengel und Blätter mehrerer hellgrüner Phantasiepflanzen mit hellvioletten Blüten, die teils an Disteln, teils an Herbstzeitlosen erinnern. Ganz offensichtlich gibt es keinen symbolischen Bezug dieser Floralmotivik zur Musik oder dem Hersteller, sie ist rein dekorativ. Die informativen Anteile der Gestaltung, darunter auch die Abbildung einer speziellen Cahit-Schalldose, sind sehr zurückhaltend, so dass die Pflanzenformen den Gesamteindruck dominieren. Zur Steigerung der künstlerischen Wirkung ist die helle Grundfläche, vor der sich die Pflanzen abheben, mit einer feinen hellvioletten Schraffur versehen. An einigen Stellen überscheiden sich die Schraffurlinien und erzeugen so einen dezenten Moiré-Effekt.

Le Cahit-Walzendosen mit floraler Art-Nouveau-Ornamentik, um 1902.

Beispiele von Walzendosen mit derart dominierender bedeutungsfreier Ornamentik sind selbst im Zeitalter des Jugendstils eine Ausnahme. Zumeist spielen Bilder und schriftliche Hinweise, mit denen eine besondere Bedeutung des Produkts reklamiert wird, eine größere Rolle.

Weitere Bildmotive

Als verbreitete Bildmotive sind außer dem Edison-Porträt noch die Porträts von Sängerinnen und Sängern zu nennen. Die Marken Pathé und Edison Bell brachten Sonderserien von Aufnahmen mit aufgedruckten Fotos damals berühmter Interpreten auf den Markt, wobei die jeweils abgebildeten Sängerinnen und Sänger auf den Dosen der Edison Bell- „Portrait gallery“ nichts mit dem Inhalt der jeweiligen Walzen zu tun haben mussten. Die Praxis des Abbildens von Künstlern als Garantie für Qualität scheint von Pathé mit echten Fotos auf den Dosen einer besonders gefällig ausgestatten Luxus-Serie von Walzen vor 1900 begründet worden zu sein, zeitgleich oder sogar früher, als die National Phonograph Company das Porträt Edisons zum gleichen Zweck zu nutzen begann.

Zwei Exemplare aus der Edison Bell Portrait Gallery-Serie, um 1905.

Viele der weiteren, auf Walzendosen anzutreffenden Bildmotive lassen sich kaum noch sinnvoll einer gemeinsamen Rubrik zuordnen. Manchmal ist die Motivwahl völlig willkürlich, wie das Beispiel der Schellhorn Platina-Guss Records zeigt. Auf der Abbildung sieht man ein Plattengrammophon mit stark in die Höhe gezogenem, frontal ausgerichtetem Trichter, an dessen Rand sich ein radialer Kranz mit starken, nach außen hin breiter werdenden goldenen Strahlen anschließt. Der Aufschrift „FAKIR“ auf dem Grammophonkasten entspricht ein in die Trichteröffnung eingezeichnetes Bild. Es zeigt eine rot gewandete, bärtige Männerfigur mit Turban, die mit einer Hand eine große Schlange am Schwanz hochhält. Den knapp skizzierten Hintergrund bilden Palmen, Zypressen und Gebäude mit Minaretten. Dies alles sind damals gängige Klischeevorstellungen von orientalischer Mystik und Zauberei. Sie werden für die Marke Schellhorn genutzt, um ihren Walzen eine Aura des Außergewöhnlichen zu verleihen. Bemerkenswert ist auch die Abbildung eines Plattengrammophons auf einer Dose für Zylinder. Vermutlich sollte hier die Modernität der Marke demonstriert werden, die bereits Schallplatten herstellte.

Ein Orient-Stereotyp als Chiffre des Mystisch-Rätselhaften: Bilddarstellung eines Fakirs für Schellhorn Platina-Guss-Records, um 1906.

Ab 1904 brachte die neugegründete, in Chicago ansässige O’Neill-James Company Gusswalzen unter dem Namen Busy Bee auf den Markt. Bei der Wahl des Markennamens stand der Name des Firmengründers Sherwin Bisbee Pate. Als grafische Ergänzung zum Namen bildet das leuchtend gelb grundierte Etikett einen kleinen Bienenkorb und ausschwärmende Bienen als traditionelles Symbol des Fleißes ab. Wie in einer Nahansicht sieht man rechts daneben einen Strauß roter Nelken, deren Blüten von dicken, etwas käferhaft aussehenden Bienen umschwärmt werden. Ein winkendes kleines Mädchen mit Schleife im Haar betont den dekorativen Eindruck der Walzendose, ohne dass deutlich wird, warum das Kind abgebildet ist und wem es zuwinkt.

Durch die Farbgebung gehören die Walzendosen der Marke Busy-Bee zum Auffälligsten, was die Gattung hervorgebracht hat. Hier zwei Ansichten mit den Bilddarstellungen, um 1905.

In den Jahren nach 1907 begann die Neigung zur dekorativen Ausschmückung ziemlich schnell abzunehmen. Dies spielte sich im Rahmen einer allgemeinen Stilentwicklung ab, die sich zunehmend von der üppigen Ornamentik des Art Nouveau verabschiedete und einfachere Gestaltungsmittel hervorbrachte. Diese stilistische Tendenz wurde verstärkt und überlagert von wirtschaftlichen Veränderungen der Phonoindustrie. Denn inzwischen hatte das Auslaufen mehrerer Phonographenpatente neue Konkurrenten entstehen lassen; gleichzeitig setzte der zunehmende Markterfolg der Plattenhersteller alle Hersteller von Walzen immer weiter unter Druck. Eine der Reaktionen darauf waren deutliche Preissenkungen. Und diese mussten einen ästhetischen Niederschlag finden. Während beim Design der Walzendosen um 1900 oft noch das Luxuriöse herausgehoben worden war, musste nun das Gegenteil betont werden. Am Anfang dieser Entwicklung stand die britische Edison Bell-Gesellschaft, die um 1905 in heftige Auseinandersetzungen mit Edisons National Phonograph Company verwickelt war und durch das Auslaufen alter Patentrechte gerade begann, ihre bis dahin unangefochtene Vormachtstellung auf dem britischen Walzenmarkt zu verlieren.

In dieser Phase brachte sie die 1′- (One Shilling-) Records auf den Markt. Deren einfarbige Dosen sind recht klar und zurückhaltend gestaltet, wobei die Preisangabe ganz im Zentrum der grafischen Ausarbeitung steht. Ab 1908 folgte Columbia in den USA diesem Beispiel. Zu diesem Zeitpunkt stellte die Firma keine eigenen Walzen mehr her, sondern vertrieb unter ihrem Namen die Celluloidwalzen der Indestructible Company als Columbia Gold Moulded Indestructible Cylinder Records. Schon die Robustheit des Celluloidmaterials ermöglichte es, leichtere und billigere Kartons zu benutzen. Die Gestaltung tat ein Übriges: Im Rahmen eines schmucklosen, von schriftlichen Informationen geprägten Designs ist auch hier der niedrige Preis, 35 Cent, die wichtigste Aussage.

Innerhalb weniger Jahre signalisierten die meisten Hersteller von Phonographenwalzen mithilfe des Designs ihrer Walzendosen, dass es sich um ein billiges Massenprodukt handelte. Einer der Spätesten war ab 1912 Edison mit den Blue Amberol Records, nachdem noch die 1908 eingeführten Amberol Records schon alleine aufgrund der Empfindlichkeit ihres Materials solide, gepolsterte Kartons erfordert hatten. Darauf war auch wieder das Porträt Edisons zu finden.

Unprätentiöse Kartons und zum Teil auch plakative Preisangaben signalisierten ein billiges Masseprodukt: Edison Bell 1′- Records, Columbia Indestructible, Oxford Cylinder Record (noch mit einem Rest an spätem Jugendstil) Edison Blue Amberol Record; ca. 1905 bis 1912.

So betonte die späte Ästhetik der Walzenproduktion parallel zum Absinken der Preise nicht mehr wie ehedem das Besondere, sondern das Gewöhnliche, Massenhafte. Trotzdem gelang es nicht mehr, das Zylinderformat als solches zu retten. Mit ihrer noch rationelleren Massenproduktion und einer Reihe von technischen Vorteilen, die sie zum Teil erst im Laufe der Zeit hatte erwerben können, war die Schallplatte als klarer Sieger aus dem Kampf der beiden frühen Nadelton-Formate hervorgegangen.